Volker Schlöndorff: „Ich selbst war bei den Jesuiten, die Gott sei Dank mehr an meinem Geist als meinem jugendlichen Körper interessiert waren..."

Über die aktuellen Missbrauchsfälle und das Thema seines neuen Films „Der junge Törleß“, spricht Schlöndorff in der Radio Bremen-Talkshow "3nach9" mit Maria Furtwängler und Moderator Giovanni di Lorenzo. Außerdem dabei: Hollywood-Veteran Ulli Lommel, Comedian Kurt Krömer, Journalist Matthias Matussek, Sängerin Annamateur und Ärztin und Allergologin Bettina Hauswald.

Für einen Abend tauscht Schauspielerin Maria Furtwängler die Rolle: Am Freitag, 16. April,  wird die beliebte Tatort-Kommissarin als dritte „Freundin von 3nach9“ die renommierte Talkrunde als Gastmoderatorin bestreiten. Dabei wird sie auch mit Regie-Legende Volker Schlöndorff sprechen.

Mit der oscarprämierten Verfilmung des Günter Grass Klassikers „Die Blechtrommel“ schrieb Volker Schlöndorff deutsche Filmgeschichte. „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, „Michael Kohlhaas“ oder „Homo Faber“ sind weitere Meilensteine des Autors, Regisseurs und Produzenten. Seine Erinnerungen und Erlebnisse in der Filmwelt schrieb er 2008 in dem Buch „Licht, Schatten und Bewegung“ nieder. Schlöndorff lebt heute in Potsdam, wird glücklicherweise nicht müde, Filme zu drehen und sich für politische und gesellschaftliche Themen zu engagieren. Bei 3nach9 spricht er u.a. über sein Erstlingswerk „Der junge Törleß“. Seine Adaption des Romans von Robert Musil über physische und sexuelle Misshandlungen in einem Provinzinternat ist unter Berücksichtigung der aktuellen Enthüllungen über Missbrauchsvorfälle in kirchlichen Einrichtungen und privaten Internaten aktueller denn je.

Interview mit Volker Schlöndorff

3nach9: Ihr erster Film und Drehbuch "Der junge Törleß" ist unter Berücksichtigung der aktuellen Enthüllungen über Missbrauchsvorfälle in  kirchlichen Einrichtungen und privaten Internaten aktueller den je. Was reizte Sie damals und heute an der Adaption dieses Buches?

V. Schlöndorff: „Die Verwirrungen des jungen Törleß“ wie der Roman von Robert Musil heißt, ist vor allem eine tiefenpsychologische Studie gewesen, basierend auf eigenen Erlebnissen des Autors. Im Nachhinein aber auch ein prophetisches Buch, da er die Tyrannen (Nazis) in nucleo vorweggenommen hat - genauer gesagt die Mentalität und die Gruppendynamik, die es möglich macht, dass eine Clique Macht über eine Mehrheit bekommt. Gewalt, Verführung und Missbrauch mit erwachender Sexualität passiert ja vor allem unter Jugendlichen selbst. Die Beteiligung erwachsener Erzieher, die jetzt diskutiert wird, dürfte die Ausnahme sein, an Schulen, in Heimen, auf Hinterhöfen und wo immer. Erschreckend ist, wie es gerade bei angeblichen Eliten die perversesten Auswüchse hat. Wie kommt das? Davon schreibt Musil und stellt fest: „Ganz unmerklich schleicht das "Böse" sich ein; es ist nicht zu erkennen, wann genau die feine Linie zwischen Gut und Böse überschritten wird, wo sie überhaupt ist, ob es sie gibt...“

3nach9: Wie sollte die Gesellschaft mit diesem Thema umgehen?

V. Schlöndorff: „Gelassen. Das gab es schon bei Naturvölkern, wurde da durch Inititationsriten irgendwie gebändigt. Aber Spiel mit Macht, Spiel mit Sexualität ist Teil unserer Natur, unserer Triebe, die nie ganz zu unterdrücken sind - es auch nicht sein sollten. Je repressiver die Erziehung, je virulenter oft die Art, wie Triebe versuchen, sich durchzusetzen. Jeder muss das immer wieder neu für sich durchfechten, das gehört zum "coming of age". Toleranz und Offenheit hilft dabei. Die kleine sexuelle Revolution, die die 60-er Jahre ja waren, hat deshalb sicher mehr positive als negative Auswirkungen gehabt. Die Kadettenanstalt im Törleß dagegen war wohl
näher an der Zucht religiöser Internate. Ich selbst war bei den Jesuiten, die Gott sei Dank mehr an meinem Geist als meinem jugendlichen Körper interessiert waren.“

3nach9: Wie beurteilen Sie die aktuelle cineatische Qualität in Deutschland?

V. Schlöndorff: „Steht mir nicht an darüber zu urteilen, ich bin ja selbst noch Teil davon. Allerdings weder ich noch die andern sind sehr brillant zur Zeit: Zu große Selbstzufriedenheit, mehr Akzeptanz bei Förderern als beim Publikum, Anspruchslosigkeit insgesamt, kein Griff nach den Sternen - also so ganz toll ist das alles nicht. „

Und noch ein bekannter Regisseur ist in der 3nach9-Runde mit von der Partie: Ulli Lommel ist ein echter Hollywood-Veteran und seit über 40 Jahren im Filmgeschäft. Er arbeitete u. a. mit Rainer Werner Fassbinder, Andy Warhol, Klaus Kinski, und Tony Curtis zusammen. Sein bewegtes Leben schrieb er nun in dem Buch „Zärtlichkeit
der Wölfe – Begegnungen“ nieder.

Interview mit Ulli Lommel

3nach9: Sie haben schon mit zahlreichen internationalen Künstlern zusammengearbeitet, wer hat Sie besonders beeindruckt?

U. Lommel: „Die drei Jahre mit Andy Warhol in der Factory in New York. Durch Warhol habe ich verschiedene Personalitys näher kennen und schätzen gelernt, wie Jackie Kennedy-Onassis und Truman Capote. Außerdem bereitete mich Warhol auf Hollywood vor. Er hatte mich 1977 nach Amerika geholt. Neben Fassbinder, mit dem ich an 21 Produktionen zwischen 1968 und 1977 arbeitete, verdanke ich ihm fast alles.“

3nach9: Was haben Sie von Ihren Mentoren Rainer Werner Fassbinder und Andy Warhol gelernt?

U. Lommel: „Nichts zu glauben, was einem so genannte "Experten" erzählen.“

3nach9: Gibt es eine ungewöhnliche Geschichte während der Dreharbeiten ihrer zahlreichen Filme, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

U. Lommel: „Mein Film „Absolute evil“ mit David Carradine, mit dem ich eng befreundet war. Ich hatte bereits mit seinem Vater John Carradine den Kult-Film „Boogeyman“ gedreht. Wenige Monate nach den Dreharbeiten starb David in Thailand. Wir hatten noch viel vor zusammen, nun müssen wir das im nächsten Leben machen…“

Live im NDR/RB-Fernsehen, hr-Fernsehen und RBB Fernsehen, 16.04., um 22 Uhr, Wiederholung: 17.04., 10 Uhr hr-Fernsehen/ 19.04., 03.05 Uhr NDR/RB-Fernsehen/ 21.04., 00.50 Uhr, NDR/RB-Fernsehen/ 26.04., 10.15 Uhr 3sat